Bei Anorexie handelt es sich, wie bei Bulimie und der Binge Eating Störung, um eine psychische Erkrankung, die sich sowohl negativ auf das Körpergewicht, als auch auf das Essverhalten auswirkt. Wir klären auf, was es mit Anorexie auf sich hat und zeigen, wie Stress mit der Störung zusammenhängt.
Was ist Anorexie?
Anorexie (med.: Anorexia Nervosa), auch bekannt als Magersucht ist eine Störung, bei der die Betroffenen ihre Nahrungsaufnahme zwanghaft kontrollieren und auf ein Mindestmaß reduzieren. Das führt zu einer starken Gewichtsabnahme. Anorexie geht mit einer eingeschränkten Körperwahrnehmung einher. Auch wenn Betroffene längst stark untergewichtig sind, fühlen sie sich weiterhin zu dick.
Durch die Mangelernährung und das Untergewicht treten körperliche Symptome wie starkes Kälteempfinden, flaumartige Körperbehaarung und bei Frauen das Ausbleiben der Menstruation auf. Hält die Magersucht lange an, kommen Muskelschwund, Organschäden, Osteoporose und niedriger Blutdruck hinzu. Laut Daten des Bundesgesundheitsministeriums stirbt jede zehnte Patientin oder Patient innerhalb der ersten zehn Jahre der Krankheit.
Welche Formen von Anorexie gibt es?
Anorexie tritt unterschiedlich in Erscheinung, auch Erbrechen, Abführen sowie Heißhungerattacken der sogenannten Ess-Brechsucht sind im Zusammenhang mit der Essstörung möglich. So unterscheiden Ärzte gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (kurz: ICD) bei der Diagnose zwischen aktiver (F 50.01) und passiver (50.00) Anorexie. Letztere Form wird auch als asketische Form der Anorexie bezeichnet. Betroffene halten ausschließlich strenge Diät, ohne weitere Maßnahmen zu ergreifen, um Gewicht zu reduzieren.
Bei der aktiven Form setzen Betroffene neben strenger Diät weitere Maßnahmen wie Erbrechen, übermäßige sportliche Aktivität, sowie die Einnahme von Appetitzüglern, Abführ- oder Entwässerungsmitteln ein, um ihr Gewicht zu reduzieren.
Wie erkennt man Menschen mit Anorexie?
Um herauszufinden, ob jemand an Anorexie erkrankt ist oder nicht, müssen Außenstehende genau hinsehen. Neben dem Gewicht, ist hier vor allem das Essverhalten entscheidend. Gemäß des ICD weisen folgende Symptome auf eine bestehende Anorexie hin:
- Der Gewichtsverlust führt zu einem Körpergewicht, dass mindestens 15 % unter dem Gewicht, das als normal für eine bestimmte Körpergröße gilt. Das Normalgewicht bestimmt dabei der sogenannte Body-Maß-Index (kurz: BMI). Bei Kindern äußert sich eine mögliche Anorexie darin, dass diese nicht weiter an Gewicht zunehmen, vor allem aber kaum Längenwachstum haben.
- Der Gewichtsverlust ist nicht durch andere Krankheiten, sondern durch eigenes Eingreifen verursacht. Dies kann etwa das Verzichten auf fetthaltige Lebensmittel, lassen Mahlzeiten weg und essen keine Süßigkeiten mehr. Teils nehmen Betroffene Appetitzüglern ein, um Hunger zu unterdrücken.
- Anorexie zeigt sich auch durch die gestörte Selbstwahrnehmung von Betroffenen, die ihren Körper stets als „zu fett““ empfinden. Dieses Empfinden ist dabei mit der Furcht verbunden, noch mehr zuzunehmen und dick zu werden.
- Betroffene legen für sich selbst ein sehr niedriges Gewicht als akzeptabel fest. Wird dieses erreicht, legen Magersüchtige eine neue niedrige Schwelle fest. Sie machen sich abhängig von er Zahl auf der Waage.
- Im Zuge des Nährstoffmangels entsteht bei Betroffenen eine endokrine Störung der Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie äußert sich bei Frauen als Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation), bei Männern als mangelndes Interesse an sexueller Aktivität und in Form von Potenzverlust.
- Anders als bei Bulimie (Ess-Brechsucht) gibt es bei Magersüchtigen keine regelmäßigen Essanfälle, welche durch die starke „Gier“ nach Essen entstehen.
Verhaltensmuster
Bei genauer Beobachtung von Betroffenen, fallen zudem abnorme Verhaltensmuster auf, die teils in Bezug zur gestörten Selbstwahrnehmung und teils im Zusammenhang mit der gestörten Beziehung zu Nahrungsmitteln stehen. Bei Verdacht auf Magersucht, können Freunde und Familienangehörige auf folgende Verhaltensweisen achten:
- in der Regel leiden Magersüchtige und Bulimiker an einer Körperschemastörung. Die Betroffenen schätzen Körpermaße falsch und größer ein, als sie in Wirklichkeit sind
- Menschen einer fortgeschritten Magersucht tragen häufig übergroße Kleidung, um den ungeliebten und als zu dick empfundenen Körper zu verdecken. Teils wird Kleidung aber auch dazu genutzt, um die Gewichtsabnahme vor Angehörigen geheim zu halten. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn Freunde oder Familienangehörige bereits auf den Gewichtsverlust hingewiesen haben.
- Essen löst Panikattacken aus. Dies äußert sich etwa in Form von introvertierten oder gereiztem Verhalten bei Tisch. Auffälliges Verhalten kann auch dann auftreten, wenn Nahrung im Allgemeinen oder in Gesprächen übermäßig thematisiert wird.
- Um nicht an Gewicht zuzunehmen, neigen Magersüchtige dazu, ihr Essverhalten streng zu kontrollieren. Dies beginnt bei der Auswahl bis hin zur Menge und zur Zusammensetzung des Essens. Teils entwickeln sich daraus ritualisiertes Essverhalten, beziehungsweise es bestehen Zwänge wie etwa Nahrung immer gleich oft zu kauen, Lebensmittel einer Farbe zu essen oder etwa die Anzahl an Lebensmitteln genau ab zu zählen.
- Im Alltag fallen insbesondere Menschen mit restriktiver Magersucht oder Magersucht mit Erbrechen (der atypischen Magersucht) erst dann auf, wenn die Störung bereits fortgeschritten ist. Dies rührt daher, dass Menschen mit Essstörungen gezielt Strategien entwickeln, um nicht „unangenehm“ aufzufallen. Um weniger Nahrung zu sich zu nehmen, essen Betroffene etwa übermäßig langsam, geben vor Allergien oder Unverträglichkeiten zu haben oder entsorgen Essen unauffällig in Servietten. Auch häufige Toilettengänge während der Mahlzeiten können darauf hinweisen, dass das Essen ausgespuckt oder erbrochen wird.
- Zwar nehmen Magersüchtige kaum und zeitweise überhaupt keine Nahrung zu sich, im Widerspruch dazu, bereiten Betroffene teils übermäßig viel Essen für andere zu, ohne selbst davon zu essen
Wo gibt es Beratung und erste Hilfe bei Essstörungen?
Um potenziell Betroffene nicht zu verunsichern, ist es sinnvoll, bei Verdacht auf Anorexie oder Bulimie zuerst einen Experten zu kontaktieren. Diese helfen bei Bedarf auch bei der Vermittlung einer geeigneten Therapie weiter und geben Tipps an Angehörige zur Kommunikation bezüglich der Essstörung.
Der Umgang mit Betroffenen verlangt ein hohes Maß an Vorsicht und Fingerspitzengefühl, da in der Regel eine Krankheitseinsicht fehlt und keine Motivation für eine Therapie besteht. Hilfe für Betroffene und deren Angehörige gibt etwa die Beratungsstelle der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (kurz: BZgA). Eine anonyme Online-Beratung können betroffene Familien bei der Caritas in Anspruch nehmen. Des Weiteren können sich Familien an Beratungsstellen des Aktionskreises für Ess- und Magersucht wenden.
Stress als Auslöser für Anorexie?
Eine Entstehung der Anorexie ist multifaktoriell. Auslöser für Anorexie können beispielsweise Stressfaktoren in der Familie, im Freundeskreis oder in der Partnerschaft sein. Dies betont Eva Hitzler, Leiterin der Caritas-Fachambulanz für Essstörungen in einem Interview:
Inwiefern kann Stress zu Essstörungen führen?
Eva Hitzler: Essstörungen treten insbesondere dann auf, wenn ich mit meinem Körper unzufrieden bin, mein Selbstbewusstsein sehr gering ist, ein zu hoher Perfektionsanspruch besteht und Selbstkritik ein strenger und dauerhafter Begleiter ist. Dies hat vor allem mit der Einstellung zu meinem Körper zu tun. Diese Einstellung kann durch unterschiedliche Stressfaktoren gestört werden – beispielsweise durch Missbrauch oder durch einen unbewussten Vertrag, den man wegen bestimmter Überzeugungen mit sich selbst geschlossen hat.
Des Weiteren können auch eingeschränkte Essrituale der Familie zur Entstehung von Essstörungen beitragen. Wird innerhalb der Familie besonderer Wert auf das „dünn-sein“ gelegt und andere aus dem erweiterten Familienkreis bezüglich deren Figur kritisiert, kann das ebenfalls eine Rolle bei der Entstehung von Essstörungen spielen.
Auch fehlende Harmonie und Akzeptanz in der Familie können chronischen Stress und somit eine Veränderung des Essverhaltens nach sich ziehen. Teils gilt eine Essstörung auch als Reaktion darauf, in eine bestimmte Rolle gesteckt zu werden, diese aber nicht annehmen zu wollen. Zudem kann Leistungsdruck und der Perfektionismus der Eltern, der Auslöser für eine Essstörung im Kindes- und Jugendalter sein.
Im Erwachsenenalter kann eine Essstörung Bestandteil anderer stressbedingter Krankheiten sein. So tritt eine Essstörung bei Männern etwa häufig in Kombination mit dem Burnout Syndrom, mit einer Depression oder auf Grund einer unangemessenen familiären Situation auf.
Wirkt sich Stress je nach Art der Essstörung (Anorexie, Bulimie, Esssucht) jeweils anders auf deren Entstehung aus?
Eva Hitzler: Bei Anorexie sind es vor allem Leistungsdruck, das Bedürfnis perfekt zu sein und es jedem recht machen zu müssen. Magersüchtige legen oftmals altruistisches Verhalten an den Tag und ignorieren dabei eigene Gefühle. Andererseits zeichnen sich Betroffene durch eine starke Ich-Struktur und einen entsprechend starken Egoismus aus. Eine Kombination, die Magersüchtige dauerhaft unter Stress setzt.
In der Bulimie, wie auch in der Esssucht, gelten negative Gefühle und innere Verzweiflung als Stressfaktoren und Auslöser für Essanfälle. Letztere wirken beruhigend auf Betroffene, die keine andere Möglichkeit haben, mit negativen Gefühlen umzugehen.
Wie kann man Essstörungen vorbeugen?
Eva Hitzler: Oft liegt die Ursache einer Essstörung unter anderem im Familienkreis. So zeigt sich bei Betroffenen zum Teil, dass diese nicht gelernt haben, mit ihren Gefühlen umzugehen, sie projizieren diese nach außen und beschuldigen gerne andere. Deshalb ist es wichtig, im Alltag Gefühle zuzulassen. Eltern sollten ihren deshalb Kinder vorleben, wie man Zuneigung zeigt, über Enttäuschung spricht ect. Innerhalb der Familie ist es wichtig, entspannt über „alles“ sprechen zu können.
Die Eltern sind jedoch nicht nur ein Vorbild wenn es um offene und ehrliche Kommunikation innerhalb der Familie geht. Auch was das Körpergefühl und das Essverhalten betrifft, können Eltern ein positives Vorbild sein. So ist es ratsam, sich nicht negativ über die Figur Anderer zu äußern. Auch das übermäßige Thematisieren von Essen, kann die Entstehung einer Essstörung begünstigen. So sollten Eltern Kindern weder zu starke Vorschriften machen, was das Essen betrifft, noch ist ratsam den Kindern „krasse“ Essgewohnheiten vorzuleben.
Zuletzt ist es wichtig, Kindern nicht zu hohem Leistungsdruck auszusetzen oder einen stark ausgeprägten Perfektionismus vorzuleben. Diese Einstellung der Eltern kann auf die Kinder übertragen werden und später zu einer übermäßigen Anspruchshaltung führen. Körperkontakt, Bewegung ohne übermäßigen Leistungsanspruch, gemeinsame Unternehmungen, spielen im Freien fördern den sozialen Zusammenhalt, die eigene sinnliche Wahrnehmung und vermitteln ein ganzheitliches Körpergefühl. Die Einstellung man sei nicht gut genug, ist in diesem Zusammenhang grundlegend für das Entstehen einer Essstörung.
Körperliche Stressoren als Auslöser und Erhaltungsfaktor von Anorexie
Im Allgemeinen gilt Anorexie als Störung, die unmittelbar mit gesellschaftlichen Werten und Schönheitsidealen in Verbindung steht und somit insbesondere durch äußere Stressfaktoren hervorgerufen wird. Allerdings weisen Erkenntnisse aus der Neurobiologie darauf hin, dass es auch körperliche Faktoren geben könnte, welche die Entstehung von Anorexie begünstigen.
So führte die Medizinische Fakultät der Universität von San Diego (Kalifornien) im Rahmen des Programms zur Behandlung und zur Erforschung von Essstörungen Untersuchungen durch, bei denen die Gehirnaktivität von Frauen mit diagnostizierter Anorexie gemessen wurde.
Hierbei stellte sich heraus, dass das Belohnungssystem von Magersüchtigen anders funktioniert, als bei Menschen ohne Anorexie. Während Letztere positiv auf Belohnung reagierten, war die Hirnaktivität bei Magersüchtigen in diesem Fall weniger ausgeprägt. Dagegen reagierten Betroffene überempfindlich auf Bestrafung.
Konkret bedeutet das: Während ein Mensch ohne Essstörung etwa Süßigkeiten oder Gebäck als Belohnung empfindet, überwiegen bei Magersüchtigen automatisch negative Gedanken wie „der Kuchen ist ungesund und macht dick“. Ursache scheint eine abweichende Funktionsweise des Dopamins zu sein, einem Neurotransmitter, der dafür verantwortlich ist, dass wir etwas als Belohnung empfinden.
Zudem zeigten die Messungen eine erhöhte Aktivität der rechten Insula. Dieser Teil des Gehirns ist etwa für das Geschmacksempfinden bei der Nahrungsaufnahme verantwortlich. Außerdem ist die rechte Insula für die Wahrnehmung des Körpers zuständig.
Hypersensibilität
In einem Interview aus dem Jahr 2016 spricht Walter Kaye, Direktor des Programms zur Behandlung und zur Erforschung von Essstörungen der Medizinischen Fakultät, bei Magersüchtigen von einer Hypersensibilität des eigenen Körpers.
Während Menschen ohne Essstörungen vor allem Unwohlsein wie etwa Magenverstimmungen bemerken, reagieren Menschen mit Anorexie hypersensibel auf Vorgänge die im Körper stattfinden. Kaye weist darauf hin, dass das Bedürfnis zu Hungern, somit als Schutzreaktion des Körpers gewertet werden könnte.
Diese Erkenntnisse könnten Betroffenen in Zukunft dabei helfen, Essstörung ganzheitlich zu behandeln und neben sozialen Stressfaktoren auch körperlich an entsprechenden Schwachstellen anzusetzen. Allerdings betont Kaye, dass hier noch einiges an Forschungsarbeit nötig ist. Noch ist nicht klar, welche neurobiologischen Abweichungen der Störung vorausgehen und welche erst im Verlauf der Krankheit entstehen.
Text: Natalie Grolig
Literatur: