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Stress und Hochsensibilität: In fünf Schritten in Deine Energiebalance

Der Wesenszug der Hochsensibilität

Die Sensibilität des Nervensystems ist ein Merkmal der Persönlichkeit, das bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Hochsensibilität beschreibt eine besonders starke Sensibilität des Nervensystems gegenüber inneren und äußeren Reizen. Aktuell wird davon ausgegangen, dass etwa 20 % aller Menschen hochsensibel sind (IFHS Institut für Hochsensibilität).

Hochsensible Menschen werden mit einer besonders stark ausgeprägten Fähigkeit geboren, innere und äußere Reize zu registrieren und zu verarbeiten. Durch ihre erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit gelangen auch Reize aus der Umgebung, die andere gar nicht wahrnehmen würden, in ihr Bewusstsein.

Kurz gesagt: Hochsensible Menschen werden sowohl durch positive als auch durch negative Reize stärker angesprochen.

Viele hochsensible Menschen spüren dieses Persönlichkeitsmerkmal auch, wenn sie es noch nicht benennen können. Sie reflektieren gerne, verspüren eine Sehnsucht nach Tiefe und Sinn, haben eine starke Intuition (oder ein gutes Bauchgefühl), ein ausgeprägtes inneres Wertesystem und sind sehr gewissenhaft.

Sie können gut mit Tieren und Kindern umgehen, sie bemerken subtile Reize, sind Visionäre und haben eine ausgeprägte Vorstellung vom großen Ganzen. Durch ihre hohe Empfindsamkeit treffen hochsensible Menschen häufig schon früh in ihrem Leben auf Unverständnis. Sie spüren, dass nicht alle ihre Empfindungen nachvollziehen können und fühlen sich dadurch häufig allein.

So wird die Sensibilität von anderen und unterbewusst auch selbst als Schwäche bewertet. Häufig ergibt sich daraus ein Dilemma zwischen den natürlichen Bedürfnissen und dem, was das Leben von ihnen abverlangt. Viele hochsensible Menschen leiden durch die äußeren Gegebenheiten und die Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gemacht haben, unter dem Gefühl, ihre Persönlichkeit verschleiern zu müssen oder halten sich sogar für unnormal.

Hochsensibilität und Stress

Ein empfängliches und hochsensibles Nervensystem ist schneller überreizt und braucht längere Zeit, um sich wieder zu erholen, da mehr Eindrücke verarbeitet werden müssen. Dadurch geraten Hochsensible schneller in einen Zustand der Überreizung und haben eine erhöhte Anfälligkeit für Stress. In vielen Situationen ist die Hochsensibilität ein Vorteil.

Die Neigung zur sehr hohen Stressbelastung hindert viele Hochsensible aber daran, die Vorteile ihrer Sensibilität zu erkennen und ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.

Das optimale Erregungsniveau

Durch die Sensibilität des Nervensystems werden sowohl Informationen von außen und als auch aus dem Inneren des Körpers aufgenommen und verarbeitet. Diese Informationen werden auch als Stimulation bezeichnet. Jeder Mensch braucht ein gewisses Maß an Stimulation, um optimal leistungsfähig zu sein und sich wohlzufühlen.

Während zu wenig Beanspruchung Menschen unterfordert und zu Langeweile und Trägheit führt, stellen zu viele Reize und Anforderungen eine Gefahr für das körperliche und seelische Wohlbefinden sowie die Leistungsfähigkeit dar (Yerkes und Dodson, 1908). Ein langfristig anhaltendes hohes Erregungsniveau ohne Phasen der Regeneration und Erholung schadet der Gesundheit und kann beispielsweise ein Burnout zur Folge haben.

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Bild©springernature.com

Menschen fühlen sich immer dann am wohlsten, wenn ihr individuelles Nervensystem einer optimalen Reizstärke ausgesetzt ist, wenn sie also weder gelangweilt noch überbeansprucht sind. Es ist ein wesentlicher Faktor für die Leistungsfähigkeit und die physische und psychische Gesundheit, sich überwiegend in diesem Wohlfühlbereich zu bewegen.

Das Ziel ist also eindeutig: Die goldene Mitte finden.

Für Hochsensible ist gerade das oft besonders schwierig. Für sie gelten andere Parameter der Reizregulation und Erholung als für die Durchschnittsbevölkerung. Bei ihnen führen geringere Reize und deutlich weniger Stimulation als bei den meisten ihrer Mitmenschen bereits zu einem optimalen Erregungsniveau. Das heißt auch, dass sie die Schwelle zur Überreizung schneller erreichen.

Anzeichen für Überreizung

  • Diffuses Unwohlsein
  • Rauschen/Schwirren im Kopf
  • Angespanntheit
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Kopfschmerzen
  • Kieferschmerzen
  • Aufgedrehtes Gefühl
  • Scheinbar grundlos schlechte Laune
  • Abnehmen der kognitiven Kapazität (z.B. Verwirrtheit oder schlechtes Erinnerungsvermögen)
  • Abweisend
  • Gereiztheit
  • Häufiges Seufzen
  • Schlechte Schlafqualität
  • Gefühl von innerer Unruhe
  • Stärkere emotionale Reaktion
  • Weinerlichkeit
  • Wut (Beherrschung verlieren)
  • Abnahme der Aufmerksamkeit und Präsenz in Gesprächen
  • Modus des teilnahmslosen Funktionierens
  • Apathie
  • Weinen aus reiner Nervosität

Viele Hochsensible sind es gewohnt, sich weit außerhalb des Wohlfühlbereichs zu befinden. Die moderne (Arbeits-) Welt bietet eine enorme Reizfülle, die auch weniger sensiblen Menschen zu schaffen macht. Aber vor allem Hochsensible sind in ihrem Alltag oft einer zu starken Stimulation ausgesetzt, die ihnen nicht guttut. Sie haben sich allerdings gezwungenermaßen so stark an die Überreizung gewöhnt, dass sie diesen Zustand der dauerhaften Erschöpfung häufig als für sich normal empfinden und die Anzeichen und Symptome übergehen.

Es ist typisch für viele hochsensible Menschen, sich selbst in mehr Verpflichtungen oder auch Vergnügen zu stürzen, als sie verkraften können (Ich kenne das von mir selbst nur zu gut). Aber zu viel Ruhe oder übermäßiger Rückzug sind ebenfalls keine Lösung, denn zu wenig Stimulation führt ebenfalls zu körperlichem und seelischem Unwohlsein.

Anzeichen für Untererregung

  • Langeweile
  • Ruhelosigkeit
  • Trägheit
  • übermäßiger Hunger
  • zu viel Schlaf
  • Verhalten wie ein Quälgeist
  • Vertiefung in Tagträume
  • Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Leben

Hochsensible bräuchten in vielen Situationen eigentlich ein anderes Tempo, um die auf sie einströmenden Reize angemessen zu verarbeiten, indem sie darüber nachdenken können, was geschieht. Diese Möglichkeit gibt es in den meisten Situationen in unserem Alltag jedoch nicht. Vor allem im Beruf ist es häufig besonders schwer, einen passenden Umgang mit dem Übermaß an Reizen und Anforderungen zu finden.

Quellen für Überstimulation

  • Hohe Intensität (z.B. helles Licht)
  • Dauer (z.B. intensive Konzentration über Wochen, Alarmanlage heult über Stunden)
  • Komplexität (z.B. Auswahl von vielen Optionen)
  • Neuartigkeit (z.B. Umzug, jemanden kennenlernen)
  • Plötzlichkeit (z.B. etwas fällt herunter)
  • Aus dem Inneren des Körpers (Hunger, Muskelspannungen)
  • Soziale Situationen (z. B. beobachtet, gelobt, kritisiert, geliebt oder bedrängt werden)

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Der letzte Punkt ist die intensivste Form der Reizstimulation: Wir sind als soziale Wesen so angelegt, dass ein Großteil der Gehirnaktivität der Interpretation sozialer Signale gewidmet ist: Details in der Mimik, Haltung und der Stimme wahrnehmen und die mögliche Bedeutung des stimmlichen Ausdrucks interpretieren ist für hochsensible Menschen besonders intensiv, da sie mehr Details als andere Menschen wahrnehmen.

Es bringt nichts, sich darüber zu ärgern, da wir nichts daran ändern können, noch ist es zielführend, diese wahrgenommenen Details zu ignorieren, so wie ich es lange Zeit getan habe.

In fünf Schritten in Deine Energiebalance

Hochsensible Menschen (auch die extrovertierten und abenteuerlustigen) brauchen unbedingt ausreichend Pausen und Erholung, damit die nervliche Erregung wieder abklingen und Energie aufgeladen werden kann. Dafür ist es wichtig, die Selbstwahrnehmung zu schärfen und einen achtsamen Umgang mit den natürlichen Bedürfnissen zu entwickeln: Was brauche ich in welcher Situation? Was tut mir gut? Zeit alleine, kreative Aktivitäten, Meditation oder Entspannungsübungen sind einige Möglichkeiten, sich selbst Zeit zu schenken.

Hochsensible haben ein sehr gutes Gespür für ihre inneren Befindlichkeiten und Bedürfnisse. Viele haben jedoch nie gelernt, Entscheidungen nach der inneren Befindlichkeit auszurichten, sondern danach was von ihnen erwartet wird – häufig in einem Kontext von Menschen mit einer geringeren Sensibilität. Hochsensible Menschen dürfen lernen, sich selbst zu vertrauen und so ihren natürlichen Bedürfnissen Priorität zu geben. Dann können sie die Kraft ihrer Sensibilität spüren und entfalten.

Schritt 1: Achtsame Selbstwahrnehmung: Überreizung erkennen

Dieser Schritt ist der erste und wichtigste auf dem Weg zu einem achtsamen Umgang mit Dir selbst. Stärke deine Selbstwahrnehmung, indem Du Dich in Deinem Alltag beobachtest:

  • In welchen Situationen bin ich übererregt und wie fühle ich mich dann?
  • Wann bin ich untererregt und wie fühle ich mich dann?
  • In welchen Situationen bin ich in meinem Wohlfühlbereich und wie fühle ich mich dann?

Mache Dir jeweils Notizen dazu und reflektiere anschließend Deine persönlichen Warnsignale, an denen Du erkennst, dass Übererregung droht.

Schritt 2: Die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen

Damit Du gut für Dich sorgen kannst und mehr Zeit in Deinem optimalen Erregungsniveau verbringen kannst, ist es wichtig, Dich mit Deinen natürlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und ihnen die Prioritäten zu geben, die sie verdienen. Trau Dich, Deine natürlichen Bedürfnisse als Maßstab für Entscheidungen anzusetzen. Orientiere Dich an Dir selbst und nicht an anderen.

Bringe Dich in Verbindung mit Deinen Bedürfnissen:

  • Wonach sehnst Du Dich?
  • Was tut Dir gut?
  • Wie kannst Du gut für Dich sorgen?
  • Wenn alles möglich wäre, was würdest Du dann gerne tun?

Du bist es wert, dass Du auf Dich achtest. Du darfst nein sagen und auf Dich selbst vertrauen.

Schritt 3:  Energieräuber und Energiequellen identifizieren

Reflektiere Deine Energiebalance und Deine Selbstfürsorge, indem Du mehr über Deine Energieräuber und Energiequellen herausfindest.

  • Welche Situationen, Aktivitäten, Tätigkeiten, Beziehungen und Orte rauben Dir Energie?
  • Welche Situationen, Aktivitäten, Tätigkeiten, Beziehungen und Orte geben Dir Energie?

Schritt 4: Energielevel im Blick behalten

Selbstfürsorge heißt, achtsam mit Dir und Deiner Energie umzugehen. Nur wenn Du für Dich selbst gut sorgst und Dein Energielevel im Blick behältst, kannst Du für andere da sein. Nutze Dein inneres Energiebarometer als Skala für Deine Planung und Lebensgestaltung.

  • Was kostet Dich wie viel Energie?
  • Wann ist es Zeit für Rückzug und Erholung?
  • Wie viel Zeit verbringst Du allein? Wie viel mit anderen?
  • In welchen Situationen gehst Du über Deine Grenzen?
  • Wie viel Energie gibst Du an andere ab und wie viel behältst Du bei Dir?

Schritt 5: Energie-Tankstellen bewusst einplanen

Überlege Dir, wie Du mehr Zeit in Deinem Wohlfühlbereich verbringen kannst. An Deinen persönlichen Warnsignalen erkennst Du, dass Du außerhalb Deiner Mitte bist. Nimm Dich selbst und diese Signale ernst. Deine Bedürfnisse sind der Zugang zu Deinem Wohlfühlbereich. Jetzt musst Du „nur noch“ die Entscheidung treffen, bewusst dafür zu sorgen, dass Du so viel Zeit wie möglich in diesem Bereich verbringst.

  • Plane Deinen Alltag bewusst so, dass Du in Deiner Energiebalance bleibst: Wie viel Zeit brauchst Du für Dich allein? Nach welchen Tagen brauchst Du erfahrungsgemäß Erholung, weil viele Energieräuber am Werk sind?
  • Behalte Dein Energielevel im Blick: Berücksichtige in Deiner Wochenplanung kürzere und längere Momente, in denen Du Energie aufladen und innerlich zur Ruhe kommen kannst.
  • Erlebe im Verlauf der Woche Deine Energiequellen bewusst. Auch wenn es sich nur um einen kurzen Moment handelt. Genieße und nimm wahr, wie Du auflädst.
  • Überlege Dir, wie Du Dich selbst an regelmäßiges Energietanken erinnern kannst. Vielleicht mit einer Erinnerung im Handy oder mit einem Symbol.

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Henrike Heier.

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Ich bin Psychologin, Ganzheitlicher Coach und selbst hochsensibel. In meiner Arbeit verbinde ich hochsensible Menschen mit ihrem wahren Selbst. Ich unterstütze Dich darin, Deine reiche und intensive Wahrnehmung zu verstehen und einen selbstbestimmten Umgang mit Dir zu finden. Damit Du Deine Gabe erkennen und Dein Potenzial leben kannst.

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