Wir leben in einer Zeit, in der wir an nichts gebunden sind. In der uns alle Türen offen stehen. Die Wahlmöglichkeiten in unserer Gesellschaft nehmen stetig zu. Die Optionen in allen Bereichen vervielfältigen sich und ermöglichen dem Individuum unbegrenzte Freiheiten.
Unser Name, unsere Religion, unsere Haarfarbe: Nichts steht fest, alles können wir frei wählen und ändern und das zu jeder Zeit. Mehr Produkte, mehr berufliche Lebensmöglichkeiten und mehr Seinsmöglichkeiten. Wir wählen frei unseren Wohnort, den Arbeitsplatz und unsere Lebenspartner. Überflutet von immer mehr Informationen und Produkten auf immer mehr Kanälen versuchen wir, auf dem neuesten Stand zu bleiben.
Was für uns heute als Selbstverständlichkeit erachtet wird, war vor hunderten Jahren noch undenkbar. In der industriellen Gesellschaft war der zentrale Bestandteil der Kampf um Freiheit, Fortschritt und Wachstum. Heute verfügen wir über diese Freiheit, zwischen etlichen, stetig wachsenden Optionen und unendlich vielen Möglichkeiten wählen zu können – und, sogar zu müssen.
Reicher an Optionen, aber ärmer an Gewissheit
Jedoch bringt diese Freiheit auch Risiken mit sich. Aufgrund der immer größer werdenden Handlungs- und Wahlmöglichkeiten geraten vor allem junge Menschen immer mehr in Orientierungs- und Ratlosigkeit. Sie fühlen sich einerseits in ihren Wahl- und Handlungsmöglichkeiten frei, andererseits aber auch allein gelassen und verloren.
Viele wissen nicht mehr, was sie machen wollen, weil sie alles machen können. Die moderne Welt koppelte sich für die Emanzipierung immer mehr von Traditionen und Struktur, welche früher Orientierung und Halt geboten hat, ab. Wir werden reicher an Optionen, aber ärmer an Gewissheit.
Angst und Druck, den falschen Weg für sich zu wählen, den Anschluss zu verlieren und nicht mehr mit dem Weltgeschehen mithalten zu können, machen sich breit. Überforderung, Stress und Burnout sind Schlagwörter unserer heutigen Zeit.
Einfluss von Social Media
Erschwerend kommt der immer stärker werdende Einfluss von Social Media hinzu. Auf Kanälen wie Instagram, Facebook und Co. wird vermittelt, dass die grenzenlosen Möglichkeiten nicht nur Utopie sind, sondern zum Greifen nah. Glückliches Leben wird vordefiniert. Schöne Influencer reden mit ihren gesponserten Uhren in der Linken und einem Matcha-Latte in der Rechten über Selbstliebe, Dankbarkeit und Work-Life-Balance.
Jeder zweite Mitte-Zwanzigjährige ist heute selbsternannter „Life- und Persönlichkeitscoach“ und erzeugt mit Sätzen wie „Du kannst alles in deinem Leben erreichen“ und „Du alleine bist für dein Leben verantwortlich“ in einer ohnehin schon überfluteten Multioptionsgesellschaft nur noch mehr Druck. Die dargebotene glitzernde und farbige Welt ohne Probleme und grenzenloser Freiheit erzeugt bei jungen Menschen ein falsches Ideal.
Ständige Vergleichsprozesse führen zu Fragen wie: „Warum schaffen es andere und ich nicht?“. Verloren im niemals endenden Prozess der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung werden kontinuierlich Gefühle wie Scham, Schuld und Minderwertigkeit produziert. Der Stresspegel der Gesellschaft steigt parallel zu seinen wachsende Optionen stetig an. Versagensängste, Orientierungslosigkeit und Identitätsprobleme sind die Folge unserer heutigen Zeit.
Mehr Freiheit = Mehr Stress?
Klingt es nicht paradox zu behaupten, dass mehr Freiheit auch mehr Stress für den Einzelnen bedeutet?
Das eigentliche Problem ist, dass die individuelle Lebensgestaltung immer weniger an die eigenen Wünsche und Bedürfnisse angepasst wird und immer mehr an die im Außen dargebotenen Möglichkeiten. Oder anders ausgedrückt: Der Mensch lebt nicht mehr das, was er will, sondern das, was er kann. Und das ist heutzutage ziemlich viel.
Es fehlt an Halt, Struktur und Orientierung. Und das sowohl im Innen als auch im Außen. Was uns früher Familie, Religion und Gemeinde gegeben hat, entfällt durch den heutigen Zeitgeist komplett. Orientierung, Struktur und Modelle werden daher im World Wide Web gesucht; und gefunden.
In nahezu jedem Lebensbereich, sei es Gesundheit, Partnerschaft, Mode, Arbeit oder Ernährung, findet man einen passenden „Micro- Influencer“ mit seinen überzeugten Anhängern. Handlungsweisen, Glaubenssätze und Werte werden schnell übernommen und der dazugehörige Lifestyle zur Ersatzreligion gemacht. Doch so ein „Micro- Influencer“ lebt in unserer schnelllebigen Gesellschaft nicht lange.
Und so springt man in der niemals endenden Hoffnung, endlich „anzukommen“, von einem Dogma zum nächsten und verliert dabei immer mehr den Kontakt zu sich selbst. Fokussiert auf die Außenwelt fühlt sich die Innenwelt irgendwann wie unbewohnt an.
Wir vergessen anzuhalten. Stehen zu bleiben, auf unsere eigenen Bedürfnisse zu schauen und uns zu fragen: „Was ist eigentlich meine Wahrheit?“, „Wofür stehe ich?“, „Was ist mir wirklich wichtig im Leben?“.
Orientierung durch Selbstfürsorge schaffen
Wir müssen mit unserer Aufmerksamkeit wieder nach Innen gehen. Lernen, unser eigenes Herz wieder als Kompass für unser Leben zu nehmen, unsere Bedürfnisse als treibende Kraft und unsere Gefühle als Glücksboten.
Wir müssen Zuversicht und Orientierung wieder im Innen erschaffen und aufhören, sie im Außen zu suchen. Wir müssen uns erden durch den Aufbau und das Pflegen einer inneren Basis. Indem wir mit unserem Fokus nach Innen gehen und anfangen, unserem Organismus das zu geben, was er wirklich braucht, fangen wir an, das Leben von Innen heraus zu befüllen und so langsam eine Heimat in uns selbst aufzubauen.
Wir müssen verstehen, dass persönliches Wohlbefinden von der Befriedigung bestimmter Grundbedürfnisse abhängt. Unser Geist redet mit uns, wie unser Körper auch.
Die Signale des Körpers verstehen
Damit es uns zum Beispiel körperlich gut geht, müssen wir die Signale, die unseres Körper uns den ganzen Tag über sendet, deuten. Es sind Zeichen wie: Schmerz, knurrender Magen, drückende Blase, trockener Mund, schwere Augen. Wir müssen die dahinterliegenden Bedürfnisse erkennen und befriedigen. Wir müssen essen, wenn unser Körper hungrig ist, trinken, wenn er durstig ist, und ihm Ruhe schenken, wenn er müde ist.
Und diese Bedürfnisbefriedigung ist eben individuell, es ist etwas ganz persönliches, wie der eigene Fingerabdruck. Es macht keinen Sinn, auf Toilette zu gehen, wenn ein Influencer es macht; wir müssen auf unsere eigene Blase achten.
Emotionen als Informationsträger wahrnehmen
Und genauso verhält es sich mit unserem mentalen Wohlbefinden auch. Auch unser psychisches System redet mit uns, nämlich in Form von Emotionen: Trauer, Angst, Einsamkeit, Neid und Zorn, das sind alles Signale unseres mentalen Systems, die uns kontinuierlich Auskunft über unsere aktuelle psychische Verfassung geben: „Das hat mich verletzt“, „Danach sehne ich mich“, „Das würde mich freuen“, „Das verärgert mich“.
Emotionen sind Informationsträger. Sie wollen uns etwas über uns sagen und uns zu einem bestimmten Verhalten motivieren, das uns in Richtung Bedürfnisbefriedigung führen soll: „Ich sollte mal wieder unter Leute gehen“, „Vielleicht melde ich mich für eine Weiterbildung an“, „Ich gehe heute mal eine Runde im Wald spazieren“.
Deshalb ist es wichtig, mit unseren Emotionen zusammen zu arbeiten. Sie nicht zu vermeiden, verdrängen oder zu leugnen, sondern sie wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, sie zu deuten und auf sie einzugehen: „Was möchte mir dieses Gefühl gerade sagen?“, „Was brauche ich gerade?“, „Welches Bedürfnis liegt hinter dem Gefühl?“.
Unser Körper hat alles, was er braucht, um uns den Weg zu unserem persönlichen Wohlbefinden zu weisen. Wir müssen einfach nur lernen, ihm wieder zuzuhören. Erst wenn wir lernen, auf die Bedürfnisse unseres individuellen System einzugehen, können wir Zustände des Wohlbefindens erreichen. Selbstfürsorge eben!
Von der Außenwelt distanzieren
Und um angemessene Selbstfürsorge betreiben zu können, müssen wir uns hin und wieder von der überfluteten Außenwelt distanzieren.
Ich empfehle da wirklich, regelmäßig „Außenwelt-Detox“ zu machen. Nicht unbedingt lange, aber dafür regelmäßig. Gezielte Pausen, in denen wir unserem Geist Erholung schenken von den ständigen Außenreizen. Ihm Ruhe gönnen. Nichts konsumieren. Nichts machen. Auch keinen Sport, nicht lesen, kein Yoga, keine Musik.
Ich rede hier nicht von „me- time“ (Zeit, die man sich bewusst für Dinge nimmt, die einem gut tun), sondern von gezielter „Aus- Zeit“. Fokuslenkung nach Innen. In dieser Zeit sollten wir uns einfach nur mit unserer Innenwelt befassen und uns bewusst unser aktuelles Wohlbefinden anschauen.
Es hilft schon, mehrmals am Tag einfach kurz die Augen zu schließen und in einen liebevollen Dialog mit sich zu gehen:“Was beschäftigt gerade meinen Geist?“, „Wie geht es mir gerade?“, „Was sagen meine Gefühle?“, „Was brauche ich heute besonders?“. Wir müssen lernen, für uns und unser Wohlergehen genauso zu sorgen wie eine liebevolle Mutter sich auch um ihr Kind sorgt! Kontinuierlich, warmherzig und geduldig.
Je mehr wir eine Basis in uns selbst erschaffen, in der wir uns wohl und geborgen fühlen, desto mehr wird diese Basis auch zur Quelle des Vertrauens in uns werden. Durch die bewusste Investition in eine reiche Innenwelt werden unsere Bedürfnisse und Gefühle immer mehr zum Orientierungspunkt für unser Handeln und unser Selbst zur Quelle für Struktur, Orientierung und Halt in unserem Leben.
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Ariane Jankowski.
Ich bin Diplom Psychologin und approbierte Verhaltenstherapeutin.
Mein Vision ist es, Menschen auch außerhalb der „klassischen Psychotherapie“, dabei zu helfen, Experten und Meister ihrer Innenwelt zu werden.